Dezember 2012

31. Dezember 2012

Verehrte Mit-Lesende!

Vor lauter anderen Aktivitäten schrumpfte meine Lese-Ausbeute noch weiter zusammen, und ich leide natürlich schon unter Entzugserscheinungen – aber es war ein volles und hektisches (schönes) Jahr, nur eben vielleicht nicht für das Lesen. Aber in Kürze gibt’s ja ein neues!

 

L. C. Tyler: The Herring in the Library. 2010.

Len Tyler habe ich dieses Jahr in Oxford kennengelernt – “kennen” ist natürlich übertrieben, ich hab ihn einen Vortrag halten hören und ein bißchen am Rande von größeren Gesprächsrunden mitgelauscht, in denen er dabei war. Seine Herring-Serie wurde sehr gelobt, weil witzig und mit Genre-Konventionen spielend; und als ich dann den Titel las, konnte ich nicht widerstehen.

Zum Buch: Das Buch gehört in die klassische Unterkategorie des “locked room puzzle”: Rob Muntham wird in der Bibliothek seines Landsitzes erdrosselt, und das während eines Abendessens, das er für eine sehr heterogene Runde von Bekannten gibt. Ehefrau und Gäste gelangen nur unter Anwendung von Gewalt in die Bibliothek. Während die Polizei sofort auf Selbstmord erkennt, drängt die Ehefrau den Schriftsteller Ethelred Tressider, der ebenfalls am Dinner teilnahm, den Mörder zu finden. Ethelred wird bei seinen Ermittlungen “gekonnt behindert” (Klappentext) von seiner Agentin Elsie Thirkettle.

So weit, so prima! Genau mein Ding! Doch beim Lesen beschlichen mich Zweifel. Entweder habe ich das Buch oder den Humor und die Anspielungen der Geschichte nicht verstanden, oder es ist eben doch nicht “mein Ding” gewesen. Weite Teile der Handlung werden nämlich erst von Ethelred und dann noch mal von Elsie (jeweils in Ich-Form) erzählt, wobei sich diese Berichte ziemlich unterscheiden (wir haben also gleich zwei unzuverlässige Erzählfiguren). Konventionelle Spannung kann bei so was nicht aufkommen, das ist klar; aber irgendwie ist diese Art des Erzählens diesmal nicht an mich rangegangen. Es war mir meist zu offensichtlich.
Erschwerend – sehr erschwerend! – kommt hinzu, daß wir ein großes Stück von Ethelreds neuem historischen Krimi, den er während seiner Ermittlung schreibt, mitlesen dürfen. An sich war ich immer ein großer Fan von “Buch im Buch”; das bin ich zwar immer noch, aber mittlerweile möchte ich die Bücher, von denen in Büchern die Rede ist, nicht mehr verbatim darin aufgeführt lesen. Ich bin immer öfter enttäuscht: Wenn in einem Roman von einem geheimnisvollen oder spannenden oder lustigen Buch die Rede ist, dann kann ich mir dieses Buch gut selbst vorstellen – und das, was ich mir vorstelle, ist immer viel geheimnisvoller, spannender oder lustiger als das, was dann tatsächlich da steht. Hier im Herring (und ich weiß nicht, ob das in den anderen Bänden der Serie auch so ist, dies ist der dritte Band) hatte ich deutlich das Gefühl, daß der eingeschobene Roman die eigentliche Handlung nur aufhält, und inwieweit das Manuskript zur Mordermittlung beiträgt, konnte ich nicht erkennen – es wäre aber auch too much gewesen, denn wir hatten ja schon zwei verschiedene Sichtweisen! (Ich muß unbedingt noch mal in den Meister des Jüngsten Tages von Leo Perutz reingucken – mir ist grad, als wäre das mit dem Buch im Buch dort ganz anders und viel besser gelungen!)
Wie bei der Stallwood neulich geschieht im Herring das, was genau vermieden werden soll: Statt daß die einzelnen Komponenten die Geschichte bereichern und verdichten, zerfransen und verdünnen sich alle Elemente gegenseitig.
(Ich sehe gerade, daß bislang nur der erste Band der Serie auf deutsch veröffentlicht wurde, und zwar unter dem Titel Im Tweedkostüm auf Mörderjagd.)

 

Agatha Christie: The Pale Horse. 1961.

Die Krimiautorin Ariadne Oliver ist eine von Christies weniger bekannten Serienfiguren; auch ich hab erst neulich überhaupt begriffen, daß es mehrere Bücher mit ihr als (Haupt-?)Figur gibt. Das fahle Pferd habe ich übrigens als erstes Buch von Christie gelesen, vor etwa dreißig Jahren, und seitdem auch nicht wieder. Jetzt fiel es mir auf Englisch in die Hand, und beim Wiederlesen hatte ich nun gar keine Bekanntheitsgefühle, was ich aber ganz gut fand.

Zum Buch: Im Pale Horse tritt die Oliver nur am Rande auf; der hauptsächliche Erzähler (“ich”) ist Mark Easterbrook, und es gibt ein paar Passagen, die von anderen Figuren in der dritten Person erzählt werden. Easterbrook schreibt ein historisches Sachbuch, aber da braucht er manchmal auch eine Pause. So geht er mal neugierig in eine der modernen Espressobars, die in Chelsea überall aus dem Boden schießen und in denen sich die hippen jungen Leute treffen. (Aus der zeitlichen Distanz jetzt sehr erheiternd!) Auf diese Weise erfährt er von plötzlichen Todesfällen – alle mit natürlichen Ursachen, aber auch alle mit großen Erbschaften verbunden … Nach einer Weile kommt ihm das komisch vor, so als ob es eine finstere Organisation gäbe, die unerwünschte reiche Verwandte beseitigt, natürlich gegen Honorar. Und als er bei einem Besuch auf dem Lande von drei Frauen hört, die im Dorf allgemein als Hexen anerkannt sind, beginnt er nachzuforschen. Kann man sozusagen spurlos auf Distanz töten? Und sind diese drei Frauen darin verwickelt? Zusammen mit einer Bekannten und Unterstützung durch einen befreundeten Kommissar wagt Easterbrook ein Experiment, um Klarheit in die Sache zu bringen, und nimmt an einer Seance teil.

The Pale Horse ist der Name des Cottages, in dem die drei Frauen leben, ein ehemaliger Gasthof; aber das “fahle Pferd” ist auch in der Apokalypse das Reittier des Todes, der mit Furcht und Krankheit einhergeht. Das paßt sehr gut bzw. ist von Christie gut ausgesucht, und mehr will ich jetzt gar nicht sagen, denn ich fand es schon sehr spannend zu lesen! Clever ist auch die Seance gestaltet, überhaupt die Beschreibung der “Hexen” – zu den traditionellen Elementen läßt Christie ganz moderne treten, zum Beispiel Elektrizität. Je mehr ich von ihr (wieder-)lese, desto größer wird meine Hochachtung vor ihr als Meisterin des Schreibens! Wie üblich, habe ich auch nur den Punkt zu bemängeln, daß relativ wenig gegessen und getrunken wird. Christie benutzt Mahlzeiten eher als Zeitangaben, nicht als sinnliche Elemente. Aber man kann schließlich nicht alles haben!

Deutsprachige Ausgabe:
Agatha Christie: Das fahle Pferd. Übersetzt von Margret Haas (1994 überarbeitet). Scherz, 1962.

 

Aktuell:
… studiere ich meine diversen Bücherlisten, um mir für das kommende Jahr ein Menü mit mehr Abwechslung zusammenzustellen!

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