Mai 2013

31. Mai 2013

Liebe Lesende,
wie schon im Vormonat angedeutet, war mein reales Leben ein ziemlicher Störfaktor, was die Lektüre betraf. Doch ein paar Werke habe ich immerhin geschafft.

0776 (98x150)Wolfgang Schivelbusch: Das Paradies, der Geschmack und die Vernunft. Hanser, 1980.
Abrupter Themenschwenk zur Geschichte der Genußmittel! Dieses Buch hat mir ein Freund geschenkt, der alles von Schivelbusch gelesen hatte und toll fand.
Zum Buch: Der Historiker Schivelbusch widmete sich zunächst der Geschichte der Eisenbahnreise, bevor er die Genußmittel (Gewürze, Kaffee/Tee, Tabak, Branntwein, „Rauschgift“) auf ihre Rollen hin untersuchte, die sie im Lauf der Zeit in der europäischen Geschichte und Gesellschaft spielten. Das ist hochspannend zu lesen, man sagt oft „aha!“ und „ach!?“, und man betrachtet sich nach der Lektüre doch mit ganz neuem Blick im eigenen Alltag … jedenfalls ging es mir so, als ich das Buch jetzt nach längerer Zeit wiederlas, auch wenn manche der Vorhersagen bezüglich des Genußmittelgebrauchs dreißig Jahre später – heute – nicht eingetroffen sind. Um Euch den Mund wäßrig zu machen: Es wird erläutert, wie im Mittelalter die Gewürze als Vorgeschmack des Paradieses und Statussymbol schlechthin galten, wie nach Entdeckung der Neuen Welt Kaffee der bürgerlichen Nüchternheit entgegenkam und Schokolade dem adligen Genußstreben, wie die Verwendung von Tabak im Lauf der Zeit die Beschleunigung des Lebens spiegelt, wie mit Branntwein die Arbeiter in der Industrialisierung betäubt wurden und wie mit „Rauschgift“ Politik betrieben wurde (und bestimmt auch immer noch wird).
Schivelbuschs Eisenbahnreise fand ich damals ein wenig sperrig, aber ich entsinne mich, wie ich Lichtblicke (Wirkung des elektrischen Lichts im 19. Jahrhundert) verschlungen habe, und Die Bibliothek von Löwen auch (über die Zerstörung der Unibibliothek im belgischen Leuven im Ersten Weltkrieg durch die Deutschen, den mühseligen Neuaufbau und die erneute Zerstörung im Zweiten Weltkrieg). Von seinen neueren Themen finde ich auf den ersten Blick das Buch über das Geistesleben in Berlin 1945-48 am interessantesten.

1463 (88x150)C. J. Cherryh: Heavy Time. 1991.
Hard-core-Science-Fiction, könnte man sagen. Durchaus auch dystopisch, denn ich weiß nicht, wer in solch einer Zukunft wirklich leben will – genauer gesagt, in solch einer Umgebung mit solch einem Job.
Zum Buch: Auf ein Notsignal hin fliegen zwei Bergleute, die mit einem kleinen Raumschiff im Asteroidengürtel Erzvorkommen lokalisieren, zu einem anderen kleinen Bergbauschiff und retten den einen Piloten, der – wie wir erst sehr viel später erfahren, jedoch von Anfang an ahnen – bereits siebzig Tage im All treibt. Seine Co-Pilotin ist bei einem Zusammenstoß mit einem größeren Raumschiff außerhalb des Schiffs verlorengegangen. Der Verunglückte ist halb irre geworden und macht seinen beiden Rettern in dem engen Schiff viele Schwierigkeiten – nicht daß die beiden sie untereinander nicht schon hätten, denn sie sind sich in Alter und Weltsicht eher fremd, obwohl sie Geschäftspartner sind und in allem aufeinander angewiesen. Nach vielen quälenden Seiten – quälend, weil die Autorin es hervorragend schafft, die Spannungen zwischen den drei Männern mit fast stream of consciousness zu verdeutlichen – kommen sie an der Station an. Zunächst wollen die Behörden den „Unfall“ vertuschen, doch ehe sie es sich versehen, wird ein Politikum daraus, das beinahe einen Aufstand verursacht … Es gibt eine Lösung, die alle überleben, aber Happy-End würde das niemand nennen.
Hinter dieser Geschichte wird die Zeit und Gesellschaft deutlich mit all ihren technischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen, politischen Fehlentscheidungen und allen Auswirkungen, die das auf den einzelnen Menschen hat. Wir sehen hier zwar nur den Ausschnitt, der die Bergbauunternehmen im Asteroidengürtel unserer Sonne betrifft, aber unheimliche Parallelen zu unserer jetzigen Zeit werden mehr als offensichtlich. Und was die Autorin auch hervorragend und spannend erzählen kann, sind die Verflechtungen zwischen Bürokratie, Wirtschaft und „der Masse“; ich würde das nicht „unterhaltsam“ nennen, aber atemlos gelesen habe ich es doch, obwohl ich das Buch schon von früher kannte.
Deutschsprachige Ausgabe:
C. J. Cherryh: Schwerkraftzeit. Übersetzt von Rosemarie Hundertmarck. Heyne, 1993.

Felix Anschütz et al. (H): Entschuldigung, sind Sie die Wurst? Heyne, 2009.
Zufällig entdeckt. Aufgeschlagen. Viel gelacht. Nach der Hälfte unwillig weggelegt, weil ich dazu gezwungen wurde (meine Mutter wollte endlich mit mir frühstücken). Weitergelesen. Weitergelacht. Geärgert, als es zu Ende war.
Ein paar Tage später zufällig den zweiten Band entdeckt. Auch schon durch. (Das ist aber ein Juni-Buch!)
Die Idee ist so naheliegend, daß man sich wundert, daß noch niemand vorher drauf gekommen ist: Man richte ein Internetblog ein, in dem alle posten können, was sie an skurrilen Dialogen in der Welt um uns herum belauscht haben.
Und dann wähle man die besten Beiträge aus und veröffentliche sie als Buch. (Ich sehe gerade: Band 3 gibt’s auch schon.)
WARNUNG! Sparsam dosiert lesen!
(Anmerkung: Ich bin ja immer sehr für Wortschatzerweiterung. Nun konnte ich meinen durch den Begriff „Checker“ erweitern – war mir vorher völlig unbekannt. Dieses Wort ist zwar vermutlich auch schon wieder aus der Mode, aber ich hab es seitdem tatsächlich im normalen Gespräch mit Freunden auch „in echt“ gehört. Ursprünglich war’s wohl mal positiv gemeint für „hat Erfolg bei Frauen“, „blickt voll durch“ und ähnlich, aber inzwischen scheint es fast nur noch abwertend eingesetzt zu werden. Meine Freunde bezeichneten damit einen Siebzehnjährigen, der generell eine große Klappe hat und stolz darauf war, noch nie ein Buch gelesen zu haben …)

Aktuell:
Wie gesagt, mehr „Belauschtes“ und einige alte Krimis aus Frauenhand, vor allem wegen meines Vortrags über „Weibliche Spürnasen im besten Alter“. (Und natürlich auch noch all das Angelesene der vorigen Monate.) Aber läd nicht das wunderbare Spätfrühlingswetter direkt zum Lesen an einem gut geheizten Kamin ein?!?!?

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