November 2013

30. November 2013

Liebe Reisend-Lesende und Lesend-Reisende,
der Monat war geprägt von Geschichte auf vielerlei Ebenen, sei es im Sachbuch, sei es in der Belletristik.

Hans-Otto Meissner: Eisenbahn-Safari. Bertelsmann, 1980.
Über den Meissner hatte ich ja neulich schon berichtet, und als mir jetzt dieser Band mit Erlebnisberichten von seinen Eisenbahnreisen in die Hände fiel, hab ich ihn gern gelesen.
Zum Buch: Es hat schon was schwer Zeitreisendes, wenn ich heute (2013) in einem Buch von 1980 lese, wie der Autor 1936 von Schanghai nach Peking reist, und da er das etwa 1980 auch erst so geschrieben hat, finden sich im Text Erklärungen zur chinesischen Geschichte von 1936 und 1980, während ich jetzt vieles noch einmal nachschlagen mußte, denn in China ist die ganze Zeit über doch reichlich viel passiert … Weitere Bahnfahrten unternimmt Meissner gezielt, und in jedem Bericht ist seine Begeisterung über diese Art des Reisens mehr als deutlich spürbar. Er sagt auch selbst, daß er einige Strecken gefahren ist, weil er sie noch mit den historischen Zügen erleben wollte. Dazu gehört auf jeden Fall die australische Reise von Alice Springs nach Adelaide, aber mittlerweile bestimmt auch einige andere, und viele nicht nur aus technischen Gründen. Meissner fuhr in Australien auch von Sydney nach Perth und zurück; unternahm in Südamerika eine Reise von Buenos Aires nach La Paz; in Nordamerika von Los Angeles nach New York sowie von Vancouver nach Montreal; von Hannover bis Yokohama über Moskau und Nachodka (zumindest bis Moskau kann ich seine Eindrücke so gut nachvollziehen, war ich doch nur wenig später auf dieser Strecke selbst unterwegs); außerdem auch von Istanbul nach Teheran (1974); und mit einem Sonderluxusdampfzug kreuz und quer durch Südafrika. Und natürlich war er auch im Orient-Express unterwegs, dessen Geschichte er ausführlich schildert.
Es gibt im Buch ein paar Fotos, die seine Berichte illustrieren, aber mehr noch hätte ich mir bessere Karten gewünscht als diejenigen, die mit abgedruckt sind, denn nicht in allen sind seine Reisestrecken markiert. Ich bin zwar nicht unbedingt Eisenbahnfan (die Deutsche Bahn verleidet einem das oft erfolgreich), aber irgendwie doch, denke ich, wenn ich mich zum Beispiel vor dem Fernseher dabei erwische, daß ich solche Reisedokus (zum Beispiel durchs südliche Afrika) und Porträts historischer Dampfloks und ihrer Strecken ansehe (etwa in der SWR-Serie Eisenbahnromantik). Schönes Buch also, gerade heute besonders lesenswert.

Christie_Big4 (88x150)Agatha Christie: The Big 4. 1927.
Also wenn Christie eins nicht kann, dann Krimis mit internationalen Geheimgesellschaften von Verbrechern. Warum sie besonders in ihrem Frühwerk so oft darauf zurückgreift, ist mir schleierhaft. Die Zeit hat ja auch gezeigt, daß sie nicht deswegen berühmt geworden ist! Bei diesem Buch hatte ich mich gewundert, warum es teils als Roman, teils als Storyband aufgeführt wird, und siehe da: Es ist tatsächlich beides.
Zum Buch: Poirot ist einer internationalen Geheimgesellschaft von Verbrechern auf der Spur, die von vier besonders verbrecherischen Gestalten angeführt wird – sie sind Poirot irgendwie auf die Füße getreten, und jetzt nimmt er das so persönlich, daß er quasi in eigenem Auftrag ermittelt.
Jedes Kapitel ist zugleich ein in sich abgeschlossenes Abenteuer auf der Jagd nach den „Big 4“ wie eben ein Abschnitt der gesamten Jagd, so daß das Buch sich wie Fortsetzungsroman liest. (Ah – ich sehe gerade, daß dem in der Tat so ist; die einzelnen Kapitel erschienen als Fortsetzungsstories in einer Zeitschrift und wurden erst drei Jahre später zu einem Buch zusammengefaßt.) Insgesamt heute eher zäh zu lesen dank der vielen gleichartigen Versatzstücke, und da hilft es auch nicht, daß die Handlung eh unglaubwürdig ist.
Deutschsprachige Ausgabe:
Agatha Christie: Die großen Vier. Übersetzt von Hans Mehl. Scherz, 1963.

0237 (88x150)Daniele Varè: The Maker of Heavenly Trousers. 1935.
Noch ein Buch aus meiner Kindheit, so seltsam das klingen mag … Meine Eltern hatten zwar nicht viele eigene Bücher (wir haben uns kollektiv durch die Stadtbücherei „gefressen“), aber eine Handvoll der frühen Rowohlt-Taschenbücher standen schon herum, und wenn ich mal krank war und deshalb mehr Lesestoff brauchte als sonst, griff ich auch in dieses Regal. Dort stand unter anderem die China-Trilogie von Daniele Varé, offenbar ein Erfolgswerk der späten 1950er, obwohl bereits 1936 erstmals auf Deutsch erschienen.
Zum Buch: Der erste Band, also der Schneider, erzählt von einem europäischen Schriftsteller (woher genau, wird, glaube ich, nie gesagt), der 1917 in Peking lebt. Er nimmt ein italienisches Mädchen in seinen Haushalt auf, deren Mutter tot und Vater ständig beruflich unterwegs ist, und verliebt sich in sie; sie heiraten auch später. Umrahmt von Schilderungen seines alltäglichen Lebens und dem seiner chinesischen Umgebung schimmert hier und da ein Stück Zeitgeschichte auf: Unter den Europäern, die ebenfalls in Peking leben, sind auch Flüchtlinge aus dem zaristischen Rußland, darunter eine schöne junge Frau, die irgendwie in die Ereignisse um Rasputin und die beginnende Revolution verwickelt ist.
Das fand ich als Kind schon alles sehr exotisch, und als ich es jetzt nach mehr als zwanzig Jahren erstmals wiederlas, noch mehr: eine ungewöhnliche Mischung aus alter chinesischer und europäischer Kultur. Daniele Varé, der Autor, war Italiener, wuchs in England auf und war italienischer Diplomat, unter anderem Ende der 1920er mehrere Jahre in China. Seine Romane und Erzählungen, im Original zumeist auf Englisch verfaßt, sind heute anscheinend völlig in Vergessenheit geraten.
Deutschsprachige Ausgabe:
Daniele Varè: Der Schneider himmlischer Hosen. Übersetzt von Annie Polzer. Zsolnay, 1936.

Macdonald_UnterWasser (93x150)Ross Macdonald: The Drowning Pool. 1950.
Auch die „Neuübersetzung“ von 1970, die 1993 nur unter neuem Titel erschien, hätte ein bißchen überarbeitet werden können – inzwischen liest sie sich wirklich leicht angestaubt und beweist damit wieder einmal, daß zwar das Original niemals altert, weil es ja in seiner Zeit bleibt, Übersetzungen aber durchaus, weil das Lesepublikum heute einen anderen Kenntnisstand hat als etwa 1970 oder 1993. Und während die Zeit des Originals beim Lesen deutlich bleibt – Ross Macdonalds Buch spielt eben eindeutig in den späten Vierzigern, der Krieg ist noch nicht lange vorbei, Männer gehen nicht ohne Hut und Frauen verhalten sich seltsam -, so habe selbst ich als Übersetzerin nicht immer klar vor Augen, wann die Übersetzung angefertigt wurde, die ich gerade lese.
Aus diesem Buch hab ich jetzt kein griffiges Beispiel, aber an dieser Stelle zitiere ich gern noch mal mein Lieblingsbeispiel aus dem Filmbereich: In The Last Picture Show / Die letzte Vorstellung von Peter Bogdanovic aus dem Jahre 1971 sprechen sie im Film in der synchronisierten Fassung von „Fußball“, während sie sich eindeutig einen ovalen Ball mit den Händen zuwerfen, und von „Käsetoast“, den es zum Abendessen gibt (und der überhaupt nicht wie Toast aussieht). 1971 mußte man das so machen, weil hierzulande noch kaum jemand wirklich wußte, was Football und Cheeseburger sind, und wir wußten auch quasi nichts über das US-Schulsystem und daß die „highschool“ nicht unbedingt mit unserem Gymnasium gleichzusetzen ist. Und es ändern sich ja auch die Prioritäten in der Übersetzungsarbeit an sich. Heute wäre es eigenartig, diese landestypischen Begriffe überhaupt einzudeutschen – aber vor sechzig, achtzig Jahren (und früher) beispielsweise war es gang und gäbe, gnadenlos alles bis hin zu Eigennamen zu „übersetzen“, so daß man in einem übersetzten US-Roman unter Umständen der Amerikanerin „Frau Müller“ begegnet.
Zurück zu Ross Macdonald, der mit wirklichem Namen Kenneth Millar hieß, aber seiner damals wesentlich erfolgreicheren Frau Margaret Millar keine Konkurrenz machen wollte (so zumindest die Legende).
Dies ist der zweite Band seiner Reihe um den kalifornischen Privatdetektiv Lew Archer, der neben Hammetts Spade und Chandlers Marlowe als einer der frühen großen Privatdetektive gilt. Archers Büro ist in Santa Teresa (das fiktionalisierte Santa Barbara, das – immer noch als „Santa Teresa“ – später auch Sue Graftons Privatdetektivin Kinsey Millhone als Basis dient), aber seine Fälle führen ihn oft in die umliegenden Vororte. Meist geht es um die Vergangenheit der Betroffenen, bis zurück in die Kindheit, in der sie Traumatisches erlebt haben, und wenn Archer ermittelt, dann deckt er quasi schichtweise immer tiefere Ebenen eines zunächst simpel erscheinenden Falls auf. (Aber was erzähle ich Euch schon über Ross Macdonald – bestimmt bin ich die letzte, die seine Bücher noch kaum kennt …)
Zum Buch: Archer wird angeheuert von einer Frau, die erpreßt wird und verhindern will, daß ihr Mann das erfährt. Sie legt Archer auch alle möglichen Steine in den Weg – beispielsweise soll er nicht mit ihrem Mann sprechen. Doch genau das will er natürlich ganz besonders, und so fährt er zum Wohnort ihrer Familie und lernt bald alle kennen, auch die Tochter seiner Klientin, ihre Schwiegermutter und den Chauffeur. Es geht nach der ersten Leiche schnell nicht mehr um die Erpressung, sondern um Geld, um Öl und vor allem um Macht, und alle sind bestrebt, alles zu vertuschen oder die Morde einem Außenseiter anzuhängen.
Ich kannte das Buch bislang noch nicht und hab beim Lesen dauernd gedacht: Wie würde man diesen Stoff heute präsentieren? Aber viel anders ist es heute sicher nicht, was das Verbrechen betrifft, doch beim Erzählen müßte man heute alle Frauen stark überarbeiten!
Deutschsprachige Ausgabe:
Ross Macdonald: Wer zögert, ist verloren. Übersetzt von Dietrich Bogulinski. Amsel, 1955. / Neu übersetzt von Hubert Deymann unter dem Titel: Kein Öl für Mrs. Slocum. Rowohlt, 1970. Auch unter dem Titel: Unter Wasser stirbt man nicht! Diogenes, 1976.

Aktuell:
Vorwarnung – ziemlich viel Pferdekrimi!

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