September 2013

30. September 2013

Verehrte Leserinnen und Leser,
Empfehlungen sind oft so eine Sache … Von begeisterten FreundInnen, Bekannten oder völlig Wildfremden bekomme ich (mitunter ungefragt) einen Titel oder gleich das Buch selbst in die Hand gedrückt. Schon das schlechte Gewissen treibt mich dann zur Lektüre, weil ich angesichts so einer freundlichen Aufmerksamkeit nicht undankbar erscheinen möchte. In meiner Erfahrung ist das Ergebnis so halbe-halbe: manches bleibt mir einfach fremd und verschlossen, aber es waren auch schon echte Kostbarkeiten dabei!

image3 (97x150)Neal Stephenson: Anathem. 2005-08.
Das Buch wurde mir von einem Freund empfohlen, der mich eigentlich gar nicht recht kennt und im Grunde nur weiß, daß ich Sprache mag – und Stephenson ist in der Tat ein Sprachspieler! Daher bin ich froh, daß ich das Buch auf Deutsch gelesen habe, denn auf Englisch wäre selbst ich vermutlich ins Schleudern geraten. Man muß sich so etwa 200 Seiten lang einlesen (es passiert erst nicht so sehr viel, aber alles wird für später gebraucht), doch als ich das Buch nach tausend (sic!) Seiten zugeklappt hab, fand ich es tatsächlich zu kurz, wie es in einem der Umschlagszitate hieß!
Zum Buch: Es gilt als Science Fiction oder Fantasy, je nachdem, aber geübte LeserInnen haben bereits nach wenigen Seiten den Verdacht, daß es im Grunde eine Parallelweltgeschichte ist. In der Welt dieses Buches also ist alles ein bißchen ähnlich wie bei uns – aber eben nur ein bißchen. Ihre Sprache ist für uns verständlich, nur die Wörter werden anders gebildet (genauer: zahlreiche Substantive und Verben, die diese Welt beschreiben), ihre Geschichte weist etwa dieselben Langzeitrhythmen von Krieg und Frieden und Propheten und so auf, nur hat sich zum Beispiel die gesamte Wissenschaft in eine Art Klöster zurückgezogen, wo die Studierenden und Lehrenden je nach Neigung ein Jahr, zehn Jahre, hundert oder tausend zusammenleben und sich erst nach Ablauf dieser Zeit für zwei Wochen der Welt öffnen. Das Buch beginnt mit einer solchen „Apert“, einem großen Fest. Der Ich-Erzähler aus dem Kloster lernt später, daß er offenbar der einzige ist, der seltsame Himmelsbeobachtungen erklären kann; das führt dazu, daß er das Kloster verläßt und sich auf eine Reise um die halbe Welt begibt.
Ach, dachte ich beim Lesen immer wieder, jetzt kommt sicher dies oder das – aber Stephenson war immer für eine Überraschung gut und brachte „dies oder das“ mit wirklich ganz neuen Drehs. Ich hab mir nun sofort einige seiner anderen Bücher besorgt – erst mal die SF/Fantasy, obwohl er in den letzten Jahren einen sehr breit angelegten historischen Zyklus geschrieben hat, der sicher auch spannend ist.
Deutschsprachige Ausgabe:
Neal Stephenson: Anathem. Übersetzt von Juliana Gräbener-Müller und Nikolaus Stingl. Manhattan, 2010.

Alexandra Cordes: Liebe unter fremden Dächern. Schneekluth, 1983 (?).
Die Cordes war in den 1970er/80er Jahren eine Erfolgsschriftstellerin und schrieb quer durch viele Genres: Familien-, Heimat-, Liebesroman, aber auch solche, die wir heute durchaus als Krimi oder wenigstens Thriller ansehen würden. Ich kannte ihren Namen, hatte aber noch nichts von ihr gelesen, und dies war nun mein erstes. Es ist definitiv kein Krimi, daher möchte ich es als Teil „C“ meines Lesevorhabens „Ich lese deutschsprachige Schriftstellerinnen aus der eigenen Bibliothek“ einsortieren.
Zum Buch: Therese Bender ist fortgeschrittenen Alters, hat ihre Familie im Krieg oder kurz danach verloren, will sich aber mit ihrem Lebensmut nicht unterkriegen lassen. So begrüßt sie es, daß sie neue Nachbarn bekommt, eine junge Familie mit zwei Kindern, um die sie sich gleich, aber behutsam kümmert. Es bleibt Therese auch nicht verborgen, daß es in der Ehe der Eltern kriselt – der Mann geht fremd, was natürlich zu weiteren Problemen führt … Nach und nach wird Therese zu einer Art privater Kindertagesstätte, und ihre Freude daran ruft Neider auf den Plan.
Ach ja, es geht alles gut aus. Und es ist nicht so ganz meine Art von Lektüre. Dennoch hat mich Cordes’ erzählerisches Können einfach so ins Buch hineingezogen, und ich finde, daß sie zu Unrecht heute vergessen ist.

Dick Francis: Smokescreen. 1972 / Knock Down. 1974 / Risk. 1977.
Ja, was soll ich sagen …
image9 (93x150)Zu den Büchern: Smokescreen: Schauspieler Edward Link wird von einer Freundin gebeten, sich ihre Pferde in Südafrika anzusehen und herauszufinden, warum die so schlecht laufen. Er reist nach Kapstadt, macht ein bißchen Sightseeing und stellt drei Dinge fest: Man trachtet ihm nach dem Leben, mit den Pferden stimmt etwas nicht, und der Regisseur seines letzten Films ist ebenfalls anwesend und auf Locationsuche, weswegen sie gemeinsam weiterreisen. Weil Link sich mit dem Regisseur nicht versteht, knistert es ziemlich, und es wird auch nicht besser, als Link sich plötzlich in einer gefährlichen Situation wiederfindet, die fatal an seinen letzten Film erinnert.

 
image10 (91x150)Knock Down: Jonah Dereham ist ein Agent, der Rennpferde für Kunden ersteigert. Damit tritt er einem Agentenkartell auf die Zehen, das den britischen Markt für sich beansprucht. Doch im Kampf gegen diese Mafia findet er auch ungewöhnliche Verbündete.

 

 

 
image4 (91x150)Risk: Buchhalter und Amateurjockey Roland Britten wird entführt, nachdem er gerade ein wichtiges Rennen gewonnen hat. Auf einem Schiff verschleppt man ihn ins Unbekannte. Er kann sich zwar befreien, aber in keinster Weise erklären, warum er das Ziel eines Verbrechens wurde – weswegen er nach hundert Seiten gleich wieder entführt wird. Zwischendrin lernt er noch zwei außergewöhnliche Frauen kennen … Ich verrate damit nichts, und es liest sich sowieso alles spannend genug!
In diesen drei Bänden lernen wir viel über Buchhaltung, übers Filmen, Schauspielern, Diamantenschürfen und natürlich über alles, was mit Pferden zu tun hat.
Deutschsprachige Ausgaben:
Dick Francis: Mit Fesseln ins Finale. Übersetzt von Ursula Goldschmidt. Ullstein, 1973. / Neu übersetzt von Malte Krutzsch unter dem Titel: Gefilmt. Diogenes, 1993.
Dick Francis: Voll Blut. Übersetzt von Ursula Goldschmidt. Ullstein, 1975. / Neu übersetzt von Ruth Keen unter dem Titel: Zuschlag. Diogenes, 1998.
Dick Francis: Ein Gold-Cup zur Entführung. Übersetzt von Ursula Goldschmidt. Ullstein, 1978. Auch unter dem Titel: Risiko. Ullstein, 1988. / Neu übersetzt von Michaela Link unter dem Titel: Risiko. Diogenes, 1999.

image6 (96x150)Elly Griffiths: The Janus Stone. 2010 / The House at Sea’s End. 2011 / A Room Full of Bones. 2012.
Voriges Jahr hatte ich zufällig diese englische Autorin entdeckt und ihren ersten Krimi um die forensische Anthropologin Ruth Galloway gelesen, der mich besonders von der Atmosphäre und der Beschreibung der Landschaft (Norfolk) beeindruckte. Nun ist es mir gelungen, Band 2-4 zu finden, und ich habe die auch gleich verschlungen.
Zu den Büchern: The Janus Stone spielt im Gegensatz zum ersten Band, der überwiegend an der englischen Nordseeküste stattfand, mehr in der Stadt, nämlich Norwich, und teilweise an einer Ausgrabungsstätte von römischen Resten im Landesinneren. Unter der Schwelle eines Abbruchhauses, das vor Jahrzehnten ein Kinderheim gewesen ist, wird ein Kinderskelett entdeckt. Zunächst vermuten Polizei und Archäologen, daß es sich um ein 1973 aus dem Heim verschwundenes kleines Mädchen handelt, doch das Skelett erweist sich als älter. Es war definitiv ein Ritualmord, und der Mörder könnte noch leben. Parallel dazu trifft Ruth einen alten Freund wieder, der sich trotz ihrer mysteriösen Schwangerschaft sehr für sie interessiert, und als DCI Harry Nelson herausfindet, daß er der Vater von Ruths Kind ist, steigt die Spannung. Und dann fühlt Ruth sich plötzlich verfolgt.
image7 (97x150)In The House at Sea’s End sind wir wieder direkt an der Küste von Norfolk, wo unter einer abbröckelnden Klippe mehrere Skelette entdeckt werden – offenbar deutsche Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg. Aber wie kamen sie dahin, und warum sind sie gefesselt? Ruth und Harry fällt es nicht leicht, noch Menschen zu finden, die sich an diese Zeit vor fast siebzig Jahren erinnern können. Ruths Tochter Kate ist inzwischen geboren, und Ruth erlebt mit voller Wucht, wie schwierig es für eine alleinstehende Frau ist, zu arbeiten und Mutter zu sein. Dennoch findet sie unerwartete Hilfe von überraschender Seite.

 
image5 (96x150)Im vierten Band der Serie, A Room Full of Bones, soll ein ausgegrabener antiker Sarg geöffnet werden, was nicht nur der Wissenschaft dienen soll, sondern auch das Museum promoten. Doch kaum ist der Sarg offen, sinken ringsherum Menschen tot zu Boden – Fluch der Mumie? Die Geschichte des Museums selbst ist mit der Geschichte einer ortsansässigen prominenten Familie eng verbunden.
In allen Bänden gelingt es der Autorin auch, wissenschaftliche Erkenntnisse und alte und neue persönliche Schicksale mit Mystik und Esoterik so zu verbinden, daß alle Bereiche gleichermaßen spannend und mit gültiger Daseinsberechtigung erscheinen. Daneben sorgt diese Themenmischung auch für eine gewisse gruselige Atmosphäre, und die gelungene Landschaftsbeschreibung der wenig bekannten Grafschaft Norfolk paßt genau dazu. Ein bißchen erinnern mich die Bücher an die Serie um die moderne Exorzistin Merrily Watkins von Phil Rickman, der diesen Mix ebenfalls hervorragend beherrscht.
Deutschsprachige Ausgaben:
Elly Griffiths: Knochenhaus. Übersetzt von Tanja Handels. Wunderlich, 2012. / Gezeitengrab. Übersetzt von Tanja Handels. Wunderlich, 2013. / Aller Heiligen Fluch. Übersetzt von Tanja Handels. Wunderlich, (angekündigt für März 2014).

Lorenz Pauli: Pippilothek??? Schweizerische Arbeitsgemeinschaft der Allgemeinen Öffentlichen Bibliotheken, 2011.
Dieses Büchlein wurde als Werbematerial für Schweizer Bibliotheken verfaßt, aber es ist inzwischen zu einem Bestseller im Bereich Kinderbuch geworden – kein Wunder! Wie ein hungriger Fuchs lernt, mit Büchern umzugehen, ist so lieb gezeichnet und witzig erzählt, daß jeder buchliebende Mensch das Werk einfach haben muß!

image8 (97x150)Jill Paton Walsh: The Attenbury Emeralds. 2010.
Es ist ja derzeit sehr in Mode, Fortsetzungen zu Klassikern zu schreiben (auch im Film, wo es gnadenlos zu allem Teil 2-14 geben muß). Das gelingt nicht immer – wer erinnert sich denn noch an Scarlett, die Fortsetzung von Vom Winde verweht? Ich glaube, daß es wirklich nicht möglich ist, genau wie die Originale zu schreiben; bestenfalls kann man sich annähern, und vielleicht erreichen manche auch eine eigenständige und lebensfähige Interpretation der Originalfiguren. Jill Paton Walsh startete mit ihren Fortsetzungen der Krimis von Dorothy L. Sayers vor einigen Jahren, als sie auf Bitten von Sayers’ Erben ein nachgelassenes Romanfragment vervollständigte. Das fand ich nicht schlecht gemacht; allerdings gefiel mir der Nachfolgeband, der auf etwas weniger Originalmaterial basierte, nicht so gut. Dennoch hab ich beide gern gelesen, denn was Sayers bzw. Paton Walsh als weiteres Schicksal ihrer Figuren entwarf, hat mich sehr interessiert. (Sayers’ Absichten kennen wir aus ihren Briefen.) Nun kam der dritte Band, der im Grunde gar kein Originalmaterial mehr enthält, sieht man von den Figuren ab.
Zum Buch: Er erzählt die Geschichte von Lord Peters allererstem Fall in sehr jungen Jahren, der sich um den wertvollen Schmuck einer befreundeten Adelsfamilie drehte. Mitten im Zweiten Weltkrieg muß Lord Peter dank neuer Informationen den Fall noch einmal ganz von vorn aufrollen. Dabei wird er natürlich tatkräftig unterstützt von seiner Frau Harriet und dem treuen (und beängstigend perfekten) Butler Bunter. Und es gibt ein überraschendes und aufwühlendes Ende.
Jill Paton Walsh ist zweifellos eine gute Schriftstellerin, und sicher gibt sie sich auch alle erdenkliche Mühe, die ihr übertragene Rolle als Sayers-Nachfolgerin auszufüllen. Doch auch sie kann nicht dagegen an, daß sie streng genommen nun historische Romane schreiben muß, und da haben wir dann gleich alle Probleme von historischen Romanen! Es gibt einfach einen unüberwindbaren Unterschied zwischen einem Roman über, sagen wir mal, den Zweiten Weltkrieg, der während oder kurz danach geschrieben wurde, und einem Roman, der jetzt, also lange nach besagtem Ereignis verfaßt wird. Weil zeitgenössische AutorInnen vieles als selbstverständlich und bekannt erachten, das uns heute ungewohnt, unbekannt oder rätselhaft vorkommt und irgendwie erklärt werden muß, tappen heutige AutorInnen eben ganz oft die Falle des Übererklärens. (Ich kann’s ja so gut verstehen – Recherche ist einfach faszinierend! Aber meist nur für diejenigen, die sie aktuell unternehmen.) Das kann Paton Walsh hier zwar weitgehend vermeiden, ganz aber eben nicht. Und ich glaube auch, daß ihr der typische respektlose und scharfzüngige Sayers-Humor nicht recht liegt – weswegen sie ihn klugerweise auch gar nicht erst nachzuahmen versucht. Aber er fehlt mir doch sehr …
Dennoch werde ich ganz bestimmt auch den nächsten Band lesen, in dem Peter und Harriet nach Oxford zurückkehren! (Erscheint demnächst in Großbritannien.)

Aktuell:
Wieder mehr gemischt und sogar auch Aktuelles.

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