Juni 2013

30. Juni 2013

Geschätzte Mitlesende,
wie schon angedroht, diesmal wieder eher krimilastig.

1403 (40x64)Agatha Christie: Cards on the Table. 1936.
In diesem Buch lernt der Detektiv Hercule Poirot die Krimiautorin Ariadne Oliver kennen. Sie begleitet ihn dann durch fünf weitere Romane und taucht auch in einem Non-Poirot auf.
Zum Buch: Die Handlung ist derart konstruiert, daß ich schon bald nicht mehr durchgeblickt habe, aber das macht mir ja nichts, weil ich an Häkelkrimis anderes schätze als das Mitraten. Poirots Bekannter, der von der Macht des Verbrechens fasziniert ist, bittet acht Gäste zu sich, die mit Verbrechen zu tun haben – vier Spürnasen und vier „andere“, die im Nachhinein als irgendeines Verbrechens verdächtig erscheinen. Der Gastgeber teilt die Gäste zum Bridgespiel auf: in dem einen Raum die Spürnasen, im anderen (in dem auch er selbst etwas abseits sitzt) die Verdächtigen. Und genau: Plötzlich ist der Gastgeber tot! Man muß nicht Bridge können, um den Mord zu verstehen, aber vielleicht haben Bridgefans Spaß daran, wie Poirot mithilfe der gespielten Runden den Charakter der Spieler ermittelt … Und es wird unglaublich viel Tee getrunken.
Ariadne Oliver gehörte natürlich zur Spürnasenrunde, in der außer Poirot noch ein Polizist und ein Armeeoffizier (vermutlich im Spionagedienst) saßen. Sie ist eine temperamentvolle Frau um die Sechzig, ziemlich chaotisch in ihrem Äußeren und Inneren, aber sympathisch, weswegen auch alle möglichen Leute ihr gern das Herz ausschütten. Mit der von ihr hochgeschätzten weiblichen Intuition rät sie wild herum und liegt mal richtig, mal total daneben. Besonders amüsiert haben mich die Passagen, in denen sie über ihr Schreiben redet oder andere schildern, wie sie Mrs. Oliver beim Schreiben beobachten – wirklich köstlich! Aber die Christie wußte ja auch genau, wovon sie sprach, auch wenn ich denke, daß sie NICHT ihre eigene Krimiproduktionsweise schilderte!
Deutschsprachige Ausgabe:
Agatha Christie: Mit offenen Karten. Übersetzt von Hedwig von Wurzian. Scherz, 1954.

Felix Anschütz et al. (H): Nee, wir haben nur freilaufende Eier. Heyne, 2010.
Es ist ja schon alles gesagt! Nur noch nicht von jedem, und da schlägt dann die Individualität voll zu.

6575 (90x150)Gladys Mitchell: Skeleton Island. 1967.
Die Mitchell – aber das weiß ich auch nur aus meinem Stapel an Sekundärliteratur – war in den 1930ern in England eine der großen und erfolgreichen Krimiautorinnen und spielte in derselben Liga wie die Christie und die Sayers. Die kannten sich auch alle persönlich und trafen sich hin und wieder. Doch während Christie und Sayers auch in Deutschland bekannt wurden und blieben, ereilte Mitchell ein trauriges Schicksal: Sie schrieb bis Ende der 1970er VIELE in England erfolgreiche Krimis, und schon kurz nach ihrem Tod war sie so gut wie vergessen. Mag sein, daß vielleicht die späteren Werke nicht ganz an die Qualität ihrer Vorkriegsware heranreichten, dafür kenne ich sie noch zu wenig. Doch andererseits war das bei vielen anderen Detektivromanautoren auch nicht anders, und sie sind trotzdem noch präsent. Was ist also passiert?
Ich glaube, daß es an ihrer Heldin liegt. Mrs. Bradley, die später geadelt wird und dann Dame Beatrice heißt, war ihrer Zeit ohnehin weit voraus, als sie 1929 erstmals auftrat. (Es folgten 65 weitere Krimis mit ihr.) Mitchell, die natürlich die Bücher ihrer Zeitgenossen kannte, parodierte von Beginn an den Detektivkrimi im allgemeinen und manche ihrer KollegInnen im besonderen. Dame Beatrice ist exzentrisch: sie ist häßlich und erinnert an einen Pterodaktylosaurier, sie ist gescheit und sagt gern auch unaufgefordert ihre eigene und völlig unkonventionelle Meinung, sie ist freudianische Psychiaterin und später Beraterin des Innenministeriums, und sie hat mit sechzig noch Sex, einfach mal so. (Ihre spätere Assistentin Laura liebt es, nackt schwimmen zu gehen.) Ihre Ermittlungsmethoden sind, gelinde gesagt, ebenso unkonventionell.
So eine Heldin ist natürlich toll, wenn sie ihrer Zeit voraus ist; aber was ist, wenn die Zeit sich ändert, so wie sie es nach dem Zweiten Weltkrieg getan hat? Da veränderte sich ja nicht nur das Krimigenre (hard-boiled PI und Psychologisches à la Highsmith), nein, auch Dame Beatrice und Laura werden Schwierigkeiten bekommen haben, sich zu orientieren. Was insgesamt das Schreiben von Detektivkrimis klassischer Art erschwert und sie spätestens in den 1970ern als total neben der Spur erscheinen läßt.
Für den deutschsprachigen Raum, und entschuldigt, wenn ich hier noch etwas aushole, kam für Gladys Mitchell und ihre Dame Beatrice nur lauter Pech dazu. In den 1950ern wurden zwei ihrer zeitgenössischen Krimis in einem deutschen Verlag veröffentlicht, der kurz darauf trotz seines anspruchsvollen Programms pleite ging. Ende der 1960er kam noch ein Mitchell-Krimi auf deutsch heraus – als hintere Hälfte eines Ullstein-Doppelbandes, der von vorn so aussieht wie ein Science-Fiction-Roman und im Vorderteil einen ganz anderen Autor und eine ganz andere Art von Krimi enthält. Ich finde es wenig überraschend, daß Mitchells Buch kaum Beachtung fand – und nachdem ich es jetzt gelesen habe, kann ich auch nur sagen, daß dieses Werk wohl nicht zu den besten von ihr gehört.
Zum Buch: Viel Hin und Her auf einer südenglischen Kanal-Halbinsel, ein irgendwie halbherziger Mord und Ermittlungen, die überwiegend im Off stattfinden … und viel zu wenig Dame Beatrice.
Schade, schade! So entgeht dem deutschsprachigen Publikum eine der ungewöhnlichsten Gestalten der klassischen englischen Krimiliteratur, und inzwischen ist es auch wenig wahrscheinlich, daß sie (oder andere vergessene und unterschätzte aus dieser Szene) jemals den Weg zu uns finden. Immerhin wird sie derzeit in England wiederveröffentlicht, und ich habe die Hoffnung, irgendwann eine komplette 66bändige Beatrice fein der Reihe nach lesen zu können – und wer weiß, vielleicht auch einen der anderen Krimis, die Mitchell unter Pseudonym schrieb. Und wie gern hätte ich auch sie selbst kennengelernt!
Deutschsprachige Ausgabe:
Gladys Mitchell: Mord auf Skeleton Island. Übersetzt von unbekannt. Ullstein, 1969.

3842 (93x150)Agatha Christie: Dead Man’s Folly. 1956.
Zum Buch: Nachdem ich nun so weitschweifig war, mach ich es hier kurz: Dieser Krimi ist womöglich noch konstruierter als Cards on the Table, und als einzige Highlights erschienen mir Mrs. Oliver, die in einem Landhaus ein Mörderspiel inszenieren soll (wieder sehr lustige Beschreibungen des Schreibens von Krimis!), sowie das drumrum stattfindende klassische englische Sommerfest, so wie es mittlerweile einigen von uns aus der TV-Serie mit Inspektor Barnaby vertraut ist.
Ich habe sowohl Folly als auch Cards auf deutsch gelesen, weil ich die englischen Ausgaben noch nicht habe. Vielleicht sind die ja irgendwie anders?
Deutschsprachige Ausgabe:
Agatha Christie: Wiedersehen mit Mrs. Oliver. Übersetzt von Dorothea Gotfurth. Scherz, 1959.

Aktuell:
… arbeite ich mich noch durch ein paar ältere US-Krimis, die ich in meinem Vortrag auch erwähnen wollte, aber so weit kam ich nicht, weil ich viel zu viel quatsche! (Es gab auch viele weiterführende Zwischenfragen.) Also davon demnächst, wenn ich sie auch wirklich durch hab.

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